Die Jahrhundertmahnung

Von | 3. September 2024

Wiedergelesen. Hermann Kants Roman „Aufenthalt“ (1977)

„Aber schreiben kann er!“ So entschieden und gleichermaßen schlitzohrig Marcel Reich-Ranickis legendäre Verteidigung des deutschen Schriftstellers Hermann Kant. Der nämlich fand wegen seiner herausgehobenen Funktion im Kulturbetrieb der untergegangen DDR – seit 1978 war er der Präsident des Schriftstellerverbandes gewesen – kaum noch Gnade vor dem Richterstuhl der Kritik in dem soeben seine lange Nachkriegszeit beendenden Deutschland. Die inzwischen vorherrschend gewordene Bewertung des einstigen Funktionärs, der es so übertrieben wie nur wenige in der schreibenden Zunft mit dem engeren Machtzirkel gehalten habe, beeinträchtigte in jeder Hinsicht den Zugang zum schriftstellerischen Werk. Kant sollte fortan als eine Gestalt gelten, dessen Zeit mit der politischen Wende in der DDR unweigerlich abgelaufen sei, denn auch schriftstellerisch sei er ja nie aus den engen Grenzen des kleinen Landes herausgekommen. Die Bewertung seines politischen Tuns war zu jener Zeit obendrein die mehr oder weniger vernichtende. Reich-Ranicki nannte, um nicht missverstanden zu werden, Kant deshalb auch einen „Hallodri“ und „Spitzbuben“, doch er hielt daran fest, ihn unter die großen Literaten Nachkriegsdeutschlands einzureihen.

Um den Beweis für die Behauptung nicht schuldig zu bleiben, hatte Reich-Ranicki den Roman „Der Aufenthalt“ angeführt, mit dem sich Kant an die Frage der tiefen historischen Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg herangewagt und diese auf recht ungewöhnliche Weise künstlerisch umgesetzt habe. Der 1977 in der DDR veröffentlichte Roman ist, wie vieles im Werk Kants, unübersehbar autobiographisch geprägt. Geschildert werden in der ausschließlichen Erzählperspektive des Haupthelden die Erlebnisse eines jungen Wehrmachtssoldaten, der im Januar 1945 zwischen Warschau und Poznań in polnische Kriegsgefangenschaft gerät, weil er abkommandiert in einem kleinen Provinzpostamt trotz der schnell heranrückenden Kriegsfront ausharren sollte, solange nämlich, bis alle Feldpost ins Reich abgeschickt sei. Das normale Soldatenschicksal in der Kriegsgefangenschaft wird jäh unterbrochen, als er im Herbst des gleichen Jahres plötzlich als angeblicher Kriegsverbrecher ausgemacht wurde, dem nun die gesonderte, exemplarisch harte und prüfende Aufmerksamkeit der polnischen Behörden in einem Hochsicherheitsgefängnis in Warschau zu Teil wurde. Der Gefangene kam hier mit Zellengenossen zusammen, die tatsächlich Kriegsverbrecher waren, lernte zudem polnische Gefängnisinsassen kennen und war natürlich denen ausgeliefert, die seinen Fall aufzuklären und ihn der gerechten Strafe zuzuführen hatten, sich insgesamt aber trotz aller Strenge sehr korrekt verhielten. Der Roman endet, als sich der Vorwurf, er habe sich im okkupierten Polen der Ermordung von Zivilisten schuldig gemacht, als falsch herausstellte und die Rückkehr in die übliche Kriegsgefangenschaft veranlasst wurde.

Mit einem solchen Roman rechnete damals in der DDR niemand, wohl umgekehrt auch niemand in der VR Polen mit einem solchen literarischen Werk aus der DDR. Kant hatte Thema und Stoff lange verfolgt, denn es war die Zeit seiner endgültigen politischen Kehrtwende, seine Entscheidung reifte hier, auf der Seite des künftig sozialistischen, des nichtkapitalistischen Deutschlands einen Neuanfang zu versuchen. Im literarischen Stoff blitzen geschichtliche Wahrheiten auf, wie sie eindringlicher gar nicht gestaltet werden können. So gab es im Sommer 1945 unter den Kriegsgefangenen eine aufgewühlte Diskussion, dass es nun langsam genug sei, dass die polnischen Behörden endlich für die Rückkehr nach Deutschland zu sorgen hätten. Kants trockene Antwort: Wir haben ja noch nicht einmal die Fahrkarte für die Hinfahrt abgezahlt!

Ziemlich dem Ende zu, als der polnische Vernehmer dem jungen Deutschen nach den abgeschlossenen Untersuchungen kühl mitteilt, die Beschuldigungen seien nun fallengelassen worden, fällt dieser Satz: „Es fällt mir bestimmt nicht leicht, einen Deutschen um etwas zu bitten, aber ich bitte Sie sehr, sehr herzlich: Die nächsten hundert Jahre, bitte sehr, verschonen Sie Polen mit Ihrem Interesse.“ Freilich, die Mahnung ans deutsche Gewissen ist literarische Fiktion, doch wer findet, wenn auf die abgelaufene Zeit zurückgeschaut wird, nicht genügend Stoff, der in diesem Licht noch einmal ganz anders aufzuscheinen beginnt!