Gedenkrede zum 85. Jahrestag des Überfalls auf Polen
Bei der Gedenkveranstaltung am heutigen 85. Jahrestag des Überfalls auf Polen und des Beginns des 2. Weltkrieges am deutsch-polnischen Mahnmal in Berlin-Friedrichshain sprach auch der Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik e.V. , der Journalist Karl Forster. Wir dokumentieren hier seine Gedenkrede.
Szanowni Państwo, Meine Damen und Herren
Schon früh am Morgen lockte die Sonne zum Aufbruch in den Wald. Es waren ja nur ein paar Schritte. um aus dem Haus unserer Verwandten in den Waldpark zu gelangen.
Schon am Vorabend hatte ich dort mit meinem jüngeren Bruder wilde Kaninchen entdeckt, die vor
uns schnell in ihre Baue flüchteten.
Als Neunjähriger Pfadfinder bemühte ich mich leise an die entdeckten Kaninchen heranzukommen
aber mein dreieinhalbjähriger Bruder war noch zu tollpatschig.
So verscheuchten wir viel zu früh manch eines der Tiere.
Bei diesem mehr Spiel als Ausflug – wurde es plötzlich still im Walde.
Vogelstimme war zu hören. aber etwas zischte in der Luft. und
plötzlich gab es einen Knall. Nochmals und nochmals. Die Idylle war
zu Ende. Uns schauderte und wurde bange. Wir liefen zurück ins Haus unter die Fittiche der Mutter.
Bald kam die Nachricht: Bomben sind auf die nahe gelegene Kleinstadt Brwinów gefallen.
Krieg ist ausgebrochen.
Krieg! Was bedeutete das damals schon für mich? Welche Vorstellungen waren damit verbunden? Soldaten! Ja. ich hatte einige in prächtige Uniformen gekleidete Bleisoldaten verschiedener Armeen.
Aber beim Spielen machten sie meistens Paraden.
Kriegsspielen wurde im Hause nicht gerne gesehen. Ich hatte zwar mal beim Vater in der Schublade ein EK-Eins entdeckt. erfuhr. daß er bei Verdun im Weltkrieg (damals hieB es noch nicht im Ersten) gekämpft und sich in den Schützengräben eine chronische Bronchitis geholt hatte.
Als ich ihn aber ausfragen wollte. wie es denn dort war. antwortete er nur: „Im Westen? – Nichts Neues!“ (Später, als ich dieses Buch von Remarque las. kam mir zum Bewußtsein, was er meinte.
Krieg war kein Gesprächsthema in der Familie.
War es wirklich so? Neue Gedanken kamen auf. Krieg ist doch mit Feuersbrünsten verbunden.
Ich erinnerte mich an die „Kristallnacht“ im November 1938 (eigentlich war es ein hellichter Tag)
in Zoppot, wo wir auf dem Gebiet der Freien Stadt Danzig noch vor zwei Tagen gewohnt hatten.
Da brannte die Synagoge. Feuerwehrleute standen herum und löschten nicht. Komisch!
Ein Junge – wohl aus der HJ – sagte zu mir: „Heute brennen wir die Juden ab. aber morgen seid ihr Polen dran“. Als ich das zu Hause erzählte. runzelte mein Vater die Stirn und sagte: „Das führt zu Krieg!“ und entschied wohl damals schon. die „freie“ Stadt Danzig zu verlassen.
Und jetzt hieß es in Turczynek „Krieg ist ausgebrochen“. Die Deutschen (nicht die Nazis, nein, einfach die Deutschen) sind in Polen eingefallen. Aus war es, mit dem Spielen. Aus mit der Kindheit.
Dieser Text von Jerzy Toeplitz, korrekt: Jerzy Leopold Teodor Toeplitz – Journalist, Übersetzer, Doktor der theologischen Wissenschaften; geboren am 21. Juni 1930 in Danzig, Ökumenischer Aktivist, Ratsmitglied des Kirchenkonsistoriums und Mitglied der Diözesansynode der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, entstammt dem Buch „Wach auf, es ist Krieg – Wie Deutsche und Polen den 1. September 1939 erlebten.
Das Buch wurde von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zum 1. September 1989, also zum 50. Jahrestag des Überfalls auf Polen herausgegeben.
Damals hofften, ja glaubten wir an eine friedliche Zukunft. Doch schon kurz darauf war mit dem Zusammenbruch der DDR die Zukunft erst einmal sehr unsicher. Doch wir wurden beruhigt. Jetzt Frieden überall, Fortschritt überall auf der Welt, alles ist gut.
Doch Heute, am 85. Jahrestag des Überfalls, sind wir in einer völlig anderen Situation. Nicht nur der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, und die Situation in vielen Ländern der Erde. Auch in unserem Land ist die Situation erschreckend. In Thüringen und Sachsen wird heute ein neuer Landtag gewählt. Und allem Anschein nach wird eine Partei, die ganz offen nichts gelernt hat aus der Geschichte vor 85 Jahren, deren Funktionäre und Anhänger wieder wie damals vordergründig von Frieden sprechen, aber Faschismus nicht nur verharmlosen sondern teilweise feiern, die Hetze gegen „die Anderen“ vorantreiben, die meisten Stimmen erringen.
Und trotz einer neuen Regierung in unserem Nachbarland Polen, sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern noch lange nicht gut. Zu viel ist in den vergangenen Jahren der rechten PiS-Regierung kaputtgegangen. Es wird dauern, bis sich alles normalisiert. Ein Hindernis sicherlich die Angst in Polen vor dem mächtigen Nachbarn Russland die – noch viel stärker als in unserem Land – Aufrüstung vorantreibt.
Dabei sind noch immer aus Sicht Polens Fragen aus der deutsch-polnischen Vergangenheit ungeklärt. Die neue Regierung erhebt nicht, wie ihre Vorgängerregierung, offizielle Reparationsforderungen in Milliarden-Höhe. Diese Forderungen waren damals auch mehr innenpolitisch motiviert, aber mit deutlichem Anti-Deutschem Tonfall. Aber sie erwartet, dass es endlich Entschädigungszahlungen an polnische Nazi-Opfer gibt. Ausgerechnet die AfD hat vor wenigen Wochen eine umfangreiche Anfrage in dieser Hinsicht an die Bundesregierung gestellt. Wer sie genau liest, findet, dass da zwei Punkte dominieren: Wie kann man über derartige Leistungen sprechen, wenn wir solche Haushaltsprobleme im eigenen Land haben. Und vor allem: Die in Rede stehenden Entschädigungen sind unter den Zahlungen, die seinerzeit an Israel geleistet wurden. Man hält nun der Regierung vor, was es kosten würde, wenn „die Polen“ ebenso entschädigt würden wie „die Juden“.
Diese rechtsradikale AfD sorgt sich gleichzeitig um die „freie Presse“ in Polen. Ende vergangenen Jahres, als der gleichgeschaltete Staatsfunk der Kaczinski-regierung weitgehend aufgelöst und durch einen neuen „öffentlich-rechtlichen“ Rundfunk mit demokratischen Strukturen ersetzt wurde, erklärte der außenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion Petr Bystron: Die Säuberungen im polnischen Fernsehen, Radio sowie der amtlichen Nachrichtenagentur PAP sofort nach der Machtübernahme durch die neuen Machthaber geben Anlass zur größten Sorge. Es ist offensichtlich, dass die Regierung Tusk eine Ausrichtung der öffentlich-rechtlichen Medien nach deutschem Vorbild anstrebt und regierungskritische Stimmen aus der Berichterstattung verdrängen will. Dabei sind unabhängige, regierungskritische Medien die tragende Säule einer funktionierenden Demokratie.
Das macht zweierlei deutlich: Was die AfD von unserer freien Presse und Rundfunk hält und wie sie beabsichtigt sie zu verändern, aber auch, wie diese Partei gegen die Entscheidungen des polnischen Volkes gegen die PiS und für eine Freie Presse hetzt.
Wir können beides nicht gebrauchen. Nicht die neuen Angriffe gegen Polen und nicht das Fortschreiten von Abbau der Demokratie und dem Mantel des „Volkswillens“.
Liebe Freunde, noch eine Bemerkung. In knapp vier Monaten gedenken wir der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Aber im vergangenen Monat gedachten wir bereits der Befreiung des Konzentrationslagers Lublin Majdanek. Ende Juli 1944 wurde es als erstes faschistisches KZ befreit. Und im Oktober 1944, also im nächsten Monat vor 80 Jahren, drei Monate bevor in Auschwitz erst das Morden beendet wurde. wurde Majdanek bereits als erstes KZ zur nationalen Polnischen Gedenkstätte erklärt.
Vielen Dank