Kaczyński plötzlich auf Mehrheitssuche
Keine verlässliche Mehrheit mehr im Sejm
Vorzeitige Neuwahlen sollen tunlichst vermieden werden, denn die regieren- den Nationalkonservativen wissen um die bedenklicher werdenden Umfragewerte. Dennoch entschied Jarosław Kaczyński nun, Jarosław Gowin, dem ungeliebten Widersacher in der Regierung, den Stuhl vor die Tür zu setzen. Auch wenn dabei unter- schiedliche Auffassungen über die strategische Ausrichtung der Wirtschafts- und damit Sozialpolitik die entscheidende Rolle spielen, nutzte Kaczyński eine andere Situation, um den bisherigen Wirtschaftsminister und immerhin Stellvertretenden Ministerpräsidenten loszuwerden. Allerdings riskierte er ziemlich viel, wie sich schnell zeigen sollte.
Kaczyńskis großer Plan, um die im Herbst 2023 fälligen Parlamentswahlen für das Regierungslager mit Siegchancen abzusichern, basiert auf der „Polnischen Ordnung“ – einem vor allem mit EU-Mitteln langfristiger angelegten Aufbauprogramm im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Einer wichtigen Rolle soll dort der sozialpolitischen Flanke zukommen, wobei mit einem umfangreichen Kreditsystem für Wohnungskauf und höhere Bildung vor allem junge Wählerschichten für das Regierungslager zurückgewonnen werden sollen. Kaczyński drängt hartnäckig darauf, möglichst frühzeitig die entscheidenden Weichen zu stellen, setzt vor allem darauf, ab 2022 das eigene Steueraufkommen kräftig zu stärken, also das gesamte Steuersystem gehörig umzubauen. Wirtschaftsminister Gowin indes verstand sich als Interessenvertreter der Wirtschaft, signalisierte seinen deutlichen Widerspruch, weil zusätzliche Steuerbelastungen für die Unternehmenswelt in diesen schwierigen Zeiten ganz einfach das falsche Signal seien. Also musste er gehen, sein Widerspruch in einer anderen Frage gab den Anlass.
Kaczyński will vor den Wahlen 2023 auch im Medienbereich nun die „polnische Ordnung“ durchsetzen, wobei ihm vor allem der Privatsender TVN mit dem weithin beliebten Nachrichtenkanal TVN24 ein Dorn im Auge ist, weil der Kanal seit Herbst 2015 zur wichtigsten Stimme des Oppositionslagers geworden ist. Das Unternehmen gehört einem US-amerikanischen Medienkonzern, also suchte das Kaczyński-Lager nach einer brauchbaren gesetzlichen Lösung. Künftig sollen Unternehmen von außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes (EU, Norwegen, Island und Liechtenstein) in Polen nur noch maximal 49 Prozent am Eigentum von Medieneinrichtungen besitzen dürfen. Völlig klar, dass das Gesetzesvorhaben sich in direkter Weise gegen TVN richtet. Die amerikanische Seite pocht allerdings auf ein Investitionsschutzabkommen, das 1990 zwischen Warschau und Washington abgeschlossen wurde. So oder so, die meisten Menschen in Polen gehen fest davon aus, dass Kaczyńskis Vorhaben keine Chance auf Erfolg beschieden sein wird. Dennoch zog er jetzt diese Karte, die wenigstens gegen Gowin den Stich setzte.
Dieser hatte sich offen gegen das Gesetzesvorhaben ausgesprochen, also gesagt, was die meisten hierzulande meinen. Das brachte das Fass zum überlaufen, kurz vor der Abstimmung im Sejm wurde er geschasst. Kaczyński nahm in Kauf, dass Gowins Rausschmiss die eigene Mehrheitsposition im Sejm gefährdet, allerdings wusste er auch, dass nur noch ein kleines Häuflein von Abgeordneten Gowin folgen wird. Im Herbst 2019 hatte Gowin mit seiner kleinen gemäßigt-konservativen Partei im Huckepackverfahren auf der Wahlliste der Nationalkonservativen 18 Abgeordnete in den Sejm gebracht, doch mittlerweile hatten die meisten von denen sich klar für die Treue zur Kaczyński-Fraktion und gegen die Gowin-Partei entschieden.
Dennoch hat das Regierungslager nun keine verlässliche Mehrheit mehr im Sejm, auch wenn Kaczyński versuchen wird, fraktionslose Abgeordnete oder kleinste Abgeordnetengruppen stärker an sein Lager zu binden. Einen schönen Einblick in die neue Situation gewährte die Sejm-Entscheidung über das neue Mediengesetz, denn in einer ersten Abstimmung siegte überraschend die Opposition, die einen Antrag auf Verschiebung der ganzen Debatte bis in den September eingebracht hatte. Unter Bruch parlamentarischer Regeln ließ Kaczyński die Abstimmung wiederholen, gewann nun wie gewünscht und brachte das Gesetzesvorhaben durch die Instanz, weil er plötzlich zusätzliche Stimmen auf seine Seite ziehen konnte.
Die Frage bleibt folglich, ob das Kaczyński- Lager jetzt solche ungebundenen Stimmen fester an sich zu binden sucht, um vorzeitige Parlamentswahlen zu verhindern, oder ob Lösungen von Fall zu Fall favorisiert werden. Letzteres würde dem Grundsatz folgen, solange regieren zu können, wie keine Mehrheit an Gegenstimmen zusammenkommt. Viele Beobachter bezweifeln indes, dass die Nationalkonservativen, die ja seit Herbst 2015 mit der absoluten Sejm-Mehrheit im Rücken das „Durchregieren“ gewöhnt sind, mit einem Mal eine solche Geschmeidigkeit und Kompromissfähigkeit an den Tag legen könnten, die es für die – beispielsweise in Skandinavien oftmals funktionierende – Variante einer erfolgreichen, stabilen Minderheitenregierung braucht. Auch Kaczyński wird wohl auf Biegen und Brechen eine stabile, feste Lösung suchen, um die entstandene Fehlstelle auszugleichen.