Können die Polen Russland und die Ukraine unterscheiden?
Polen und das Programm
der „Östlichen Partnerschaft“
„Gazeta Wyborcza“ appelliert an den Westen unnachgiebig zu sein
Von Holger Politt
Vor einigen Jahren wurde ich in Prag gefragt, ob die Menschen in Polen Ukrainer von Russen, überhaupt die Ukraine von Russland unterscheiden könnten. Ich bejahte, erhielt als Antwort aber, dies könne man in Tschechien in der Regel nicht. Jetzt würde die Frage lauten, ob die Menschen in Polen tatsächlich an einen EU-Beitritt der Ukraine glaubten. Die bejahende Antwort läge auf der Hand.
Tatsächlich gibt es unter allen EU-Ländern nur in Polen ein solch klares Stimmungsbild, denn in den drei baltischen Republiken deren offizielle Politik den Standpunkt Polens in dieser Frage teilt, liegen die durch die Nationalitätenzusammensetzung bedingten Mehrheitsverhältnis wiederum anders. Diese spezifische Sicht in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland vermochte es, sich in handfeste Politik zu äußern. Mit starker Unterstützung des schwedischen Außenministers Carl Bildt wurde nach dem kurzen russisch-georgischen Krieg im August 2008 das Programm der „Östlichen Partnerschaft“ an die Spitze der EU-Ostpolitik gehievt.
Es betrifft die Beziehungen zwischen der EU zu sechs östlichen Nachbarländern – zur Belarus, zur Ukraine, zur Moldowa, zu Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Allesamt ehemalige Sowjetrepubliken, denen möglichst enge Beziehungen zur EU eingeräumt werden sollen. Während etwa Deutschland das nicht unbedingt als eine Beitrittsperspektive verstehen will, gehört diese für Polen grundsätzlich dazu. Die Belarus ist augenblicklich ein politischer Sonderfall, der mehr oder weniger auf Eis liegt. Am weitesten in Richtung engerer Partnerschaften bewegten sich Georgien und Moldowa, deren Vertreter im November 2013 in Vilnius Assoziierungsabkommen paraphiert haben. Doch beide Länder haben auf ihrem Territorium sogenannte abtrünnige Republiken, die unter besonderem Schutz Russlands stehen. In beiden Fällen wird dieser Schutz militärisch durchgesetzt.
Das entscheidende Land in diesem Programm der „Östlichen Partnerschaft“ aber war von Anfang an die Ukraine. Der enge Schulterschluss insbesondere zwischen Polen, Litauen, Lettland und Estland in dieser Frage ist verständlich, allen geht es darum, der Ukraine langfristig eine Beitrittsperspektive einzuräumen. So nimmt es nicht Wunder, dass diese Frage auch für die Außenpolitik Polens seither von zentraler Bedeutung ist.
Eine Zuspitzung erfolgte, nachdem Wiktor Janukowytsch im November 2013 seine bereits in Aussicht gestellte Unterschrift unter das ausgehandeltes Assoziierungsabkommen auf Druck Moskaus kurzfristig zurückzog. Mit der dynamischen Entwicklung regierungsfeindlicher Demonstrationen in Kiew und anderen westlichen Landesteilen entstand Ende Januar 2014 eine dramatische Situation, die Polens Ministerpräsident Donald Tusk zum Anlass nahm, in einem Fernsehinterview den Standpunkt seiner Regierung ausführlicher zu erläutern. Seine Regierung werde sich auch weiterhin entschieden für eine EU-Beitrittsperspektive der Ukraine einsetzen, die Tür zur EU müsse offen bleiben. Nicht zu übersehen war, wieviel Temperament des einstigen „Solidarność“-Kämpfers dabei zum Tragen kam.
Im öffentlichen Meinungsbild gab es nur wenig Widerspruch. Zwar hielten einige Kommentatoren die Strategie der „Östlichen Partnerschaft“ für gescheitert, auch wurde darauf verwiesen, wie anders die Situation der Ukraine im Vergleich zu der Polens nach 1990 sei, doch grundsätzlich wurde der eigene Weg in die EU-Strukturen und die Entwicklung seither als nachahmenswertes Vorbild auch für die Ukraine gesetzt. Große Bedeutung hat dabei auch die Tatsache, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, welches Anfang der 1990er Jahre in beiden Ländern noch annähernd gleich gewesen war, in Polen heute dreimal so hoch ist wie beim östlichen Nachbarn.
Polens Außenminister Radosław Sikorski, der am 21. Februar 2014 in Kiew nach blutigen Zusammenstößen zusammen mit Frank-Walter Steinmeier jenes Papier unterzeichnete, das anschließend den letzten Anstoß zum Sturz von Janukowytsch gab, sah diesen Ausgang als Bestätigung der eigenen Linie und für die Folgerichtigkeit des Programms der „Östlichen Partnerschaft“. Der verwaiste Lenin-Sockel, vor dem er sich in wenig diplomatischer Pose am selben Tag ablichten ließ, gehört zu dieser Überzeugung dazu.
Nachdem Russland als Antwort auf den Janukowytsch-Sturz kurzerhand die Krim abriegelte und mit militärischen Mitteln in Besitz nahm, gibt sich Polens Außenpolitik entschieden und unnachgiebig. Jetzt gebe es zur EU-Perspektive der Ukraine keine Alternative. Aufschlussreich ein Kommentar in der „Gazeta Wyborcza“ vom 6. März 2014. Darin wird an den „Westen“ appelliert, jetzt weniger nachgiebig zu sein als 2008 in Georgien, als letztlich, wenn auch widerwillig und uneingestanden der neue Status quo akzeptiert worden sei. Der Kreis schließt sich, denn damals wurde aus der entstandenen Not heraus die „Östliche Partnerschaft“ erfunden.